In vielen öffentlichen Briefen bringen Städte und Gemeinden, Bündnisse, Gremien, Institutionen, Kammern und weitere, derzeit Ihren Unmut zum Ausdruck, dass die sogenannten "Coronaspaziergänge" weitestgehend von Seiten der Behörden (Versammlungsbehörden und Polizei) geduldet werden. Überwiegend fordern diese Briefe das weisungsbefugte Innenministerium und die Versammlungsbehörden auf, gegen diese unangemeldeten Demonstrationen vorzugehen.
Die Versammlungsfreiheit ist ein elementares Grundrecht in unserer Demokratie. Jede*r hat das Recht sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln, um seine/ihre Meinung öffentlich kund zu tun. Wir schätzen dieses Grundrecht und sind uns bewusst, dass es zu schützen ist und Eingriffe in dieses Freiheitsrecht wie beispielsweise aktuell durch Verordnungen zum Zwecke des Infektionsschutzes intensiver Abwägungen bedürfen.
Wir fordern aus folgenden Gründen eine konsequente Durchsetzung bestehender Gesetze und Verordnungen:
4.1 Es existieren einige Voraussetzungen, um eine Versammlung durchzuführen und in Anbetracht der Pandemiesituation zum Schutze der Bevölkerung begründete zusätzliche Maßgaben. Eine Versammlung unter freiem Himmel muss - auch ohne Pandemie - von der/dem Veranstalter*in angemeldet werden, um eine Kommunikation und Kooperation mit den Behörden zu ermöglichen. Ziel ist die Gewährleistung eines friedlichen - und in der derzeitigen Situation zusätzlich vor Infektionen schützenden - Verlaufes der Versammlung. Es ist davon auszugehen, dass die Veranstalter*innen diese als "Spaziergänge" getarnten Versammlungen nicht anmelden, weil sie kein Interesse an einer derartigen Kommunikation und Kooperation haben und somit offensichtlich keinen friedlichen Verlauf der Versammlungen forcieren. Das gefährdet unsere Demokratie!
Diese als "Spaziergänge" getarnten Versammlungen nicht anzumelden, ist ein grundlegender Teil der politischen Botschaft, die durch die Versammlungen vermittelt werden soll. Die Initiator*innen und Teilnehmenden wollen zum Ausdruck bringen, dass Regeln, die wir alle uns geben, um unser Zusammenleben zu organisieren, für sie nicht relevant sind. Die offensiv zur Schau gestellte Nichteinhaltung dieser demokratischen Regeln ist eine bewusste Provokation, auf die staatliche Behörden aus unserer Sicht nicht mit Rückzug reagieren dürfen.
Grundrechte wie das Versammlungsrecht sind nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat, sondern organisieren den Ausgleich zwischen den individuellen Freiheitsrechten der Bürger*innen. Sie sind die Grundlage der Werteordnung der Bundesrepublik Deutschland und gehören zum Kern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes. Mit Verstößen gegen das Versammlungsrecht zu provozieren, um staatliche Behörden in einer Pandemie vorzuführen, schadet uns allen. Aus diesem und den genannten Gründen fordern wir die konsequente Durchsetzung des Versammlungsrechts für die sogenannten "Coronaspaziergänge".
4.2 Wir beobachten derzeit, dass zahlreiche nicht angemeldete „Spaziergänge“ einen immer aggressiveren Charakter annehmen. Verbale Attacken und körperliche Übergriffe auf Polizist*innen und vermeintliche Feinde der Versammlungsteilnehmenden wie Journalist*innen und Wissenschaftler*innen, Sachbeschädigungen und Bedrohungsszenarien vor Ämtern und Wohnungen von Politiker*innen sind längst nicht mehr Einzelfälle bei sogenannten "Coronaspaziergängen". Wir sehen nicht, dass der Staat - vertreten durch die entsprechenden Behörden - seiner Verantwortung zur Verhinderung, Unterbindung und Ahndung dieser Straftaten in ausreichendem Maße nachkommt. Das bisherige Verhalten wurde von Seiten des Innenministeriums damit begründet, dass es sich bei den Teilnehmenden um die „Mitte der Gesellschaft“ handele. Das zweifeln wir bei einem Teil der Teilnehmenden nicht an. Dennoch erwarten wir, dass auch Straftaten aus „der Mitte der Gesellschaft“ durch die Polizei unterbunden werden. Hinzu kommt der Umstand, dass es nachweislich eine gravierende Unterwanderung der "Spaziergänge" durch Nazis, Verschwörungstheoretiker*innen und die Reichsbürger*innenszene gibt. Dementsprechend wird die Argumentation von der „Mitte der Gesellschaft“ der Realität nicht vollständig gerecht.
4.3 Nachdem mehrere Politiker*innen geäußert haben, dass diese Versammlungen nicht aufgelöst werden können, weil Kinder mit in den Reihen stehen, wurden Kinder gezielt von den Teilnehmenden mitgenommen und zum Teil mit Luftballons ausgestattet, um sie für die Behörden sichtbar zu machen. Wir sehen eine gravierende Kindeswohlgefährdung darin, Kinder als Schutzschild zu missbrauchen. Die entsprechenden Behörden fordern wir dazu auf ihrer Verantwortung nachzukommen, d.h. Kindeswohlgefährdung zu erkennen und konsequent zu unterbinden und zu ahnden.
4.4 Die Konsequenzen steigender bzw. konstant hoher Inzidenzen in diesem Bundesland tragen alle Thüringer*innen. Die gesamte Situation ist für alle Menschen derzeit eine Herausforderung und verlangt jeder Person viel Kraft ab. Existenzbedrohungen, soziale Einschränkungen, Überlastungen der Krankenhäuser und des Gesundheitsamtes, die Radikalisierung einiger Teile der Gesellschaft und viele weitere Aspekte dieser Krise machen vielen Menschen zurecht Angst. Das Verhalten eines prozentual geringen Teils der Bevölkerung, zu dem unter anderem "Coronaspaziergänger*innen" gehören, hält die Pandemie und die damit einhergehenden geschilderten Ängste am Laufen. Das Handeln von "Coronaspaziergänger*innen" verlängert die Zeit, in der die gesamte Bevölkerung erhebliche Einschränkungen erfahren muss. Dies sehen wir als eine unverhältnismäßige Belastung, die Frust in der Bevölkerung ausgelöst hat, welche durch die zuständigen Behörden in Kauf genommen wird. Zusammenfassend ist es unverantwortlich und unsolidarisch, dass sich die "Spaziergänger*innen" nicht an geltende Hygieneschutzregeln halten und im schlimmsten Fall kostet dieses Verhalten auch Menschenleben.
4.5 Wir erwarten von Seiten der Landesregierung, dass umgehend ausreichende personelle Ressourcen bei Sicherheits-, Ordnungs- und Justizbehörden geschaffen werden, um ein zügiges und konsequentes Handeln zu ermöglichen. Auftretende Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit den nicht angemeldeten "Spaziergängen" müssen besonders rasch geahndet und bearbeitet werden, damit entsprechende Sanktionen ihre Wirkung entfalten können. Bei einer verzögerten Bearbeitung, die auch zu einer Verjährung führen kann, fühlen sich betreffende Teilnehmende darin bestätigt, dass der Staat nicht handlungsfähig sei.