Im Rahmen des Petitionsverfahrens wurde die Thüringer Landesregierung beteiligt und um eine Stellungnahme gebeten. Die entsprechenden Ausführungen des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS) hat der Petitionsausschuss in seine Beschlussfassung einbezogen.
Der Petitionsausschuss weist darauf hin, dass polytechnische und lebenspraktische Bildung in Thüringen durch Inhalte verschiedener Unterrichtsfächer (z. B. Werken, Heimat- und Sachkunde, Technisches Werken, Technik, Wirtschaft-Recht-Technik, Sozialkunde, Sozialwesen, Natur und Technik, Mensch-Natur-Technik) erworben wird.
Die „Landesstrategie zur beruflichen und arbeitsweltlichen Orientierung in Thüringen“ wurde 2021 in Zusammenarbeit mit allen wichtigen Partnern aktualisiert und gilt ab dem Schuljahr 2022/2023. Mit der neuen Landesstrategie wird der Prozesscharakter der beruflichen Orientierung noch deutlicher als bisher hervorgehoben. Hierzu wurden einerseits bewährte Elemente beibehalten und andererseits auch neue aufgenommen. Kernstück der Landesstrategie sind flächendeckend angebotene Praxismaßnahmen. Dabei hat sich der Fokus der praxisorientierten Maßnahmen der beruflichen Orientierung hin zur arbeitsweltlichen Orientierung verschoben. Denn die Erfahrung zeigt, dass Praxismaßnahmen für Schülerinnen und Schüler am erfolgreichsten sind, wenn sie anfangs im „geschützten“ Raum, also meist in Ausbildungsstätten verschiedener Bildungsträger, stattfinden und später eine unmittelbare Anbindung an Praxismaßnahmen in Unternehmen erfolgt.
Tiefere Einblicke in die reale Arbeitswelt ermöglichen in jedem Fall eine bessere Entscheidungsgrundlage für die Jugendlichen. Es können Ausbildungsabbrüche vermieden werden, weil Schülerinnen und Schüler bereits während der Schulzeit klarere Vorstellungen von Berufen erlangen können.
Für Schülerinnen und Schülern sind in den Klassenstufen 9 und 10 fünfzehn Tage für reale arbeitsweltliche Erfahrungen vorgesehen. Einzelne Projekttage (z. B. Tag der offenen Berufe) können ergänzend genutzt werden. Von weiteren Praktika wird auf Grund der Erfüllung der Lehrpläne und der Vorbereitung auf die Prüfungen abgesehen.
Schülerinnen und Schülern werden jedoch weitere freiwillige Praktika in den Ferien empfohlen.
Der Tag in der Praxis (TIP) ist ein Modellprojekt von verschiedenen Partnern. Das Projekt führt Schülerinnen und Schüler im zweiten Schulhalbjahr der Klassenstufe 8 bis zum Ende des ersten Schulhalbjahrs der Klassenstufe 9 an die Praxis verschiedener Berufen in der realen Arbeitswelt heran. Aktuell ist die Resonanz der Beteiligten zum Projekt positiv.
Bereits 2016 hat die Industrie- und Handelskammer (IHK) Südthüringen in Zusammenarbeit mit dem Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft (TMWWDG) die Jugend-Unternehmenswerkstätten (JUW) zur frühzeitigen Technikförderung von Kindern und Jugendlichen ins Leben gerufen. Ziel der Werkstätten ist es, die technischen Fertigkeiten zu fördern und das Interesse an MINT-Berufen zu wecken. Gleichzeitig sollen die Schülerinnen und Schülern Unternehmen in ihrem regionalen Umfeld kennenlernen, um die Entscheidung zur Wahl eines technischen Berufes zu unterstützen. Dazu wurden seit Projektbeginn zwölf Jugend-Unternehmenswerkstätten in Südthüringen eingerichtet und mit kindgerechten Werkzeugen und Arbeitsmaterialien ausgestattet. Basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit können die Schülerinnen und Schüler die Werkstätten in Heimatnähe besuchen und ihre handwerklichen Fähigkeiten ausbauen. Ende 2021 wurde das Projekt auf Thüringen ausgeweitet. Seitdem koordiniert die Stiftung für Technologie, Innovation und Forschung Thüringen (STIFT) das Projekt, welches weiterhin vom Thüringer Ministerium für Wirtschaft, Wissenschaft und Digitale Gesellschaft gefördert wird.
In den Jugend-Unternehmenswerkstätten wird wöchentlich nach der Schule interessanten Fragen und Projekten nachgegangen. Es können Prototypen gebaut, Fertigungsanlagen besichtigt und nebenbei das handwerklich-technische Geschick der Kinder- und Jugendlichen geschärft werden. Von der Holz- und Metallverarbeitung, über die Lebensmittelindustrie und Hightech-Branche sind einer JUW thematisch keine Grenzen gesetzt. Die Schülerinnen und Schüler sollen so die Unternehmen als authentische Lern- und Arbeitsumgebung kennenlernen und somit vielleicht auch einen ersten Grundstein für ihre berufliche Zukunft in der eigenen Region legen.
Aus Sicht des Petitionsausschusses bedarf es keiner Wiederaufnahme des Polytechnikunterrichts, da es ausreichend adäquate Angebote gibt. Die berufliche Orientierung ist praxisnah gut aufgestellt und bietet zahlreiche Möglichkeiten sich während der Schulzeit auszuprobieren, um eine bewusste Berufswahlentscheidung treffen zu können. Langzeitpraktika werden z. B. über das Projekt TIP angeboten. Lernwerkstätten arbeiten z. B. als Jugend-Unternehmenswerkstätten bereits seit 2016 in Thüringen. Gegebenenfalls durch Unterrichtsausfall entstandene Bildungsdefizite können nicht allein durch die geforderten Maßnahmen behoben werden.