Im Rahmen des Petitionsverfahrens wurde die Thüringer Landesregierung beteiligt und um eine Stellungnahme gebeten. Die entsprechenden Ausführungen des Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport (TMBJS) hat der Petitionsausschuss in seine Beschlussfassung einbezogen.
Im Ergebnis seiner Beratung weist der Petitionsausschuss auf Folgendes hin:
Die Bundesländer haben sich im Rahmen der Entwicklung der gemeinsamen Abituraufgabenpools der Länder auf das Dokument mit mathematischen Formeln für das Fach Mathematik geeinigt. Dieses Dokument wurde im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) von der Arbeitsgemeinschaft (AG) Aufgaben Mathematik am Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) erarbeitet.
In der AG Aufgaben Mathematik war Thüringen mit einem Vertreter beteiligt und konnte sich somit fachlich in die Entwicklung des Dokumentes einbringen. Die AG Abiturkommission stimmte in ihrer 24. Sitzung dem weiterentwickelten Dokument mit mathematischen Formeln und dessen Einsatz ab dem Schuljahr 2023/2024 zu (Beschluss vom 14. Juni 2021).
Ziel ist die Vereinheitlichung des Abiturs im Fach Mathematik für alle Länder der Bundesrepublik, so dass eine transparente Vergleichbarkeit erzielt wird. Da es zahlreiche Formelsammlungen/Tafelwerke im Handel mit unterschiedlichen fachlichen Umfängen zu erwerben gibt, besteht derzeit die Möglichkeit, dass nicht nur jedes Bundesland eine eigene Version benutzt, sondern auch jede Schule. Dadurch waren ungleiche Ausgangsbedingungen für die Erbringung von mathematischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler im Sinne eines fairen Vergleichs gegeben.
Die KMK hatte sich dieser Problematik mit dem Vorsatz angenommen, diese aufzulösen. Das Ergebnis liegt nun in Form des Dokuments mit mathematischen Formeln vor. Das Hilfsmittel wird 16 verschiedenen Lehrplänen gerecht.
Die KMK verfolgt im Mathematikunterricht das Ziel, Schülerinnen und Schüler zu befähigen, mathematische Kompetenzen zu erwerben und anzuwenden. Dazu gehören unter anderem das Verstehen und Anwenden mathematischer Konzepte, das Lösen von mathematischen Problemen, das Interpretieren und Kommunizieren mathematischer Ergebnisse sowie das Nutzen von mathematischen Werkzeugen und Technologien.
Ziel ist es, die mathematische Bildung der Schülerinnen und Schüler zu fördern und ihnen eine solide Grundlage für ihre weitere Bildung und ihr späteres Leben zu geben.
In der Petition wird als ein Grund der Verhinderung der Einführung des neuen Dokumentes mit mathematischen Formeln der Spaßfaktor benannt.
Die Erfahrungen aus Lehrerfort- und Weiterbildungen sowie aus wissenschaftlichen Analysen der Mathematikdidaktik der letzten Jahre zeigt jedoch vielmehr auf, dass das monotone Berechnen durch das Einsetzen von Zahlen in eine Formel die Schülerinnen und Schüler eher langweilt und nicht das komplexe Denken fordert, da das Ausrechnen ein Taschenrechner übernehmen kann.
Der Unterricht ist zwar „bequem" für die Schülerinnen und Schüler, stellt jedoch einen entscheidenden Widerspruch zu Spaß und Freude am Lernen dar. Spaß bereitet den Schülerinnen und Schülern dagegen, wenn sie mit einer Problemstellung konfrontiert werden, die ihre Neugier und Motivation weckt, so dass durch Ausprobieren, Kombinieren sowie Modellieren ein Lösungsweg entwickelt werden kann.
Hierdurch werden komplexe mathematische Denkprozesse in den Köpfen der Lernenden im Sinne eines erhöhten Anforderungsniveaus ausgelöst, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben. Der Sinn des Mathematikunterrichtes darf nicht darin bestehen, dass stur und ohne Zusammenhang zur Herkunft von Formeln und ihrer Aussagekraft Berechnungen durchgeführt werden. Die Schülerinnen und Schüler sollen gerade dazu befähigt werden und die Kompetenz entwickeln, selbst Zusammenhänge mathematisch in Formeln zu interpretieren, um von dem Auswendiglernen wegzukommen.
Genau das ist ein Grund der dafür spricht, komplexe Formelsammlungen aus dem Unterricht zu nehmen. Die KMK und das IQB haben sich daher zum Ziel gesetzt, mit dem Formeldokument im Mathematikunterricht eine einheitliche Grundlage für die Vermittlung von mathematischen Formeln und Zusammenhängen zu schaffen. Das Formeldokument soll dazu beitragen, dass Schülerinnen und Schüler in allen Bundesländern eine vergleichbare mathematische Bildung erhalten und dass Lehrkräfte eine Orientierungshilfe für die Auswahl und Vermittlung von mathematischen Formeln und Zusammenhängen haben.
Das Formeldokument soll somit zur Verbesserung der Qualität des Mathematikunterrichts beitragen und die Vergleichbarkeit der Leistungen der Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Ländern der Bundesrepublik ermöglichen. Ob dies durch das jetzt eingeführte Formeldokument erreicht wird, wird die KMK evaluieren und gegebenenfalls Handlungsbedarfe ableiten und Anpassungen vornehmen.
Für die nachhaltige Entwicklung mathematischer Kompetenzen ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler im Laufe ihrer Schulzeit Verständnis für mathematische Zusammenhänge gewinnen. Voraussetzung dafür ist der Erwerb grundlegender Vorstellungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse. Diese grundlegenden Kompetenzen in Verbindung mit mathematischem Verständnis ermöglichen den Schülerinnen und Schülern, flexibel mit den zugrundeliegenden mathematischen Inhalten umzugehen. Die Konzeption des Formeldokuments folgt diesem Prinzip. Entsprechend enthält das Dokument Formeln, die im Unterricht entwickelt und verwendet werden und in der Abiturprüfung eine Rolle spielen können.
Soweit in der Petition angeführt wird, dass dieses Dokument auch Formeln enthält, die Thüringer Schülerinnen und Schüler bereits im hilfsmittel-freien Teil des Abiturs kennen müssen, ist dies richtig. Dieser Umstand liegt im Thüringer Lehrplan zum Erwerb der Allgemeinen Hochschulreife Mathematik begründet, der an dieser Stelle von den anderen Lehrplänen der Länder abweicht.
Das Dokument stellt keine Formelsammlung im klassischen Sinn dar; insbesondere werden im Allgemeinen Bezeichnungen nicht erklärt und Voraussetzungen für die Gültigkeit von Formeln nicht genannt. Das Formeldokument soll bewusst zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden. Es sollen Denkansätze gegeben werden, die den Schülerinnen und Schülern das Erkennen von Strukturen und Algorithmen erleichtern.
Den Eindruck des Petenten, dass das Fach Mathematik damit zum reinen Lernfach wird, kann der Petitionsausschuss nicht bestätigen. In den unterrichtlichen Mittelpunkt soll gerade das Modellieren von Sachzusammenhängen rücken. Die Schülerinnen und Schüler sollen durch einen modernen und auch von der Wirtschaft geforderten Unterricht befähigt werden, Probleme aus dem Alltag mathematisch aufzuarbeiten und so Lösungen zu finden.
Zusammenfassend ergibt sich, dass gerade die Argumente, die in der Petitionsbegründung angeführt werden, exakt die Gründe sind, weshalb die Formelsammlung/das Tafelwerk nicht mehr in seiner klassischen Form in Abschlussprüfungen zugelassen werden soll. Mathematik soll nicht auf Aufgabenlösen über Formeln beschränkt sein, sondern einen Interpretations-und Argumentationsspielraum ermöglichen. Dies steht in keinem Zusammenhang zum Auswendiglernen. Mit dem neuen Formeldokument wird man explizit dem geforderten modernen Mathematikunterricht gerecht. Eine Verhinderung dessen Einsatzes wäre kontraproduktiv.
Zusammenfassend ergibt sich, dass die Einführung des „Dokumentes mit mathematischen Formeln" ein Schritt in eine neue Unterrichtskultur darstellt und somit konform mit den Zielen des modernen Mathematikunterrichts ist.
Das Ziel des Mathematikunterrichts der gymnasialen Oberstufe in Thüringen besteht, wie oben ausführlich dargestellt, entsprechend den Vorgaben der KMK darin, den Schülerinnen und Schülern ein fundiertes mathematisches Verständnis zu vermitteln und sie auch auf die Anforderungen des Thüringer Abiturs mit erhöhtem Anforderungsniveau vorzubereiten. Dabei lernen sie, mathematische Probleme zu analysieren, zu lösen und ihre Lösungen zu präsentieren. Außerdem sollen sie lernen, mathematische Methoden und Werkzeuge zu gebrauchen und deren Anwendbarkeit zu reflektieren (Methodenkompetenz).
Die Abiturprüfung im Prüfungsjahr 2024 wird diesen Anforderungen in jedem Prüfungsteil unter Berücksichtigung der Anforderungsbereiche I bis III entsprechen. Die Schülerinnen und Schüler werden mathematische Inhalte in Sachzusammenhängen mit Hilfe ihrer erworbenen mathematischen Kompetenzen entsprechend den Bildungsstandards im Fach Mathematik für die Allgemeine Hochschulreife und den für alle Lehrerinnen und Lehrer des Freistaats verbindlichen Vorgaben des Thüringer Lehrplans Mathematik mit den erlaubten Hilfsmitteln lösen.
Mithin besteht kein Widerspruch zwischen den Zielen des Mathematikunterrichts und der Abiturprüfung Mathematik mit erhöhtem Anforderungsniveau im Prüfungsjahr 2024.